Wilhelm Kienzl

1857 - 1941

Wilhelm Kienzl, im oberösterreichischen Waizenkirchen im Innviertel als Sohn eines Rechtsanwalts geboren, ist in Graz aufgewachsen und erhielt dort auch seinen ersten musikalischen Unterricht. Als Klavierlehrer hatte die Mutter den Chopin-Schüler Mortier de Fontaine ausersehen, der seit 1870 in Graz lebte und als recht kauziger Zeitgenosse den jungen Musiker zu beeindrucken wußte. Kienzl schrieb später über ihn:
Er war es, der die Musikseele in mir weckte ... eiferte mein Streben zu höchsten Zielen an.
Im Grazer Musikleben spielte der junge Heißsporn bald eine eminente Rolle, er sang Tenor, spielte Klavier, präsentierte erste eigene Kompositionen und gründete einen neuen »Akademischen Kunstverein«

Als ausgebildeter Geiger und Pianist ging Kienzl 1874 nach Wien, um Komposition und Musikwissenschaft zu studieren, wobei die legendären Ästhetik-Vorlesungen Eduard Hanslicks das Zentrum dieses Studiums bildeten. Kienzls Dissertation trug den Titel: die musikalische Deklamation

Den Versuch einer Kontaktaufnahme mit Johannes Brahms quittierte der mürrische ältere Kollege - wie so oft - mit recht bärbeißigen Kommentaren zu den vorgelegten Partituren. Kienzl erinnerte sich später an Worte wie:
Modulieren Sie doch, wohin sie wollen. Was geht das mich an?
Bei ausgiebigen Konzertreisen, die über abenteuerliche Wege auch in die östlichsten Gebiete des damaligen ungarischen Königreichs und nach Galizien führten, machte Kienzl auch in Deutschland Station, suchte in Weimar auch Kontakt zu Franz Liszt und besuchte die Bayreuther Festspiele. Die neudeutsche Schule um Liszt und Wagner blieb dann lebenslang das Fundament von Kienzls musikalischer Welt. Das Werk Richard Wagners pflegte er zunächst als Kapellmeister: Im Todesjahr des großen Vorbilds wirket Kienzl als Direktor der Deutschen Oper in Amsterdam. Ein Intermezzo führte Kienzl nach Graz zurück, wo er den Steiermärkischen Musikverein leitende und am Konservatorium unterrichtete. 1890/91 war er als Kapellmeister in Hamburg unter Vertrag, bekam aber vernichtende Kritiken und wurde bald von Gustav Mahler abgelöst.

Während seiner Kapellmeisterjahre knüpfte er Kontakte zu so gut wie allen bedeutenden und weniger bedeutenden Vertretern des Musiklebens und der Literatur im deutschsprachigen Raum. Die Korrespondenz, die Kienzl hinterlassen hat, füllt ganze Kästen. Mit der Zeit wurde Kienzl ein geachteter Komponist. Mit der dritten seiner Opern, dem → Evangelimann landete er 1894 dann einen Erfolg, der ihn im deutschen Sprachraum wirklich berühmt machte. Der Evangelimann blieb Kienzls bekanntestes Werk und wurde über Jahrzehnte zum Repertoirestück. In Wien stand er noch Anfang des neuen Jahrtausends wieder auf dem Spieplan der Volksoper. Von den späteren Werken Kienzls schafften es noch Don Quixote (1897), vor allem aber der 1911 an der Volksoper uraufgeführte Kuhreigen zu Achtungserfolgen. In Österreich galt Kienzl auch in der Zwischenkriegszeit als einer der bedeutendsten lebenden Opernmeister.

Nach 1917 lebte er in Wien, wohin ihn sein Freund, der Dichter Peter Rosegger, sozusagen dienstverpflichtet hatte:
Du gehörst in die Großstadt. Dort kannst Du Deine komplizierte Natur in all ihren Teilen ausleben, dort findest Du nach allen Deinen Seiten hin richtiges Verständnis und den dazugehörigen Erolfg. In Graz warst Du ein erhabener Einsiedler, ein Gegensatz des Künstlers zur Welt, unter Umständen können solche Verhältnisse ja hochtragen, aber den Menschen lassen sie unbefriedigt.
1920 - Kienzl hatte soeben in einem aufgewühlten c-Moll-Streichquartett (seinem Opus 99) die triste Stimmung in der Hauptstadt des ehemaligen Habsburger-Reiches refelektiert, beauftragte die Regierung der Ersten Republik ihn mit der Komposition einer Hymne nach Karl Renners Gedicht »Deuschösterreich, du herrliches Land«, die aber nie zur offiziellen Hymne des Staates wurde. Als Komponist hat sich Kienzl angesichts der Entwicklungen der musikalischen Avantgarde in den Zwanzigerjahren völlig zurückgezogen. Seine Enttäuschung über die Zeitläufte spricht noch nicht aus seinen Memoiren, die 1926 unter dem Titel »Meine Lebenswanderung« in Stuttgart erschienen. Seine Selbsteinschätzung formulierte er darin bescheiden:
Bei Gott, ich halte mich nicht für einen ragenden Künstler, aber für einen echt und ehrlich empfindenden Menschen, der sein kleines Pfand mit Liebe zu nutzen verstanden hat.
Erst die späten Jahre ließen Kienzl verbittert zurück. Seinem Biographen Hans Sittner, der den Lebensabend des verstummten Komponisten beschrieb, gestand er:
Mich macht die Moderne ganz irre; ich kann und will nicht atonal sein, aber ebensowenig banal oder veraltet.
Mit einem dritten Streichquartett, einem knapp gehaltenen, aber klassisch in vier Sätzen gehaltenen Werk, verabschiedete sich der Komponist - die Klangwelt, die er darin beschwört, ist alles andere als verklärt-rückwärtsgewandt, bringt eher Saiten zum Schwingen, wie sie zur selben Zeit Erich Wolfgang Korngold anschlägt - in bewußtem Gegensatz zur »atonalen« Avantgarde, aber durchaus auf der Höhe seiner Zeit...

↑DA CAPO